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Waite-Tarot

 

 

 

 


Wer hat es wann gemacht?

Das Waite-Tarot wurde von dem am.-engl. Dichter, Übersetzer, Redakteur, Autor und Mystiker Arthur Edward Waite (2.10.1857 – 19.5.1942) konzipiert. Waite wuchs in England im katholischen Glauben auf und entwickelte früh ein Interesse an dem Kern dessen, was sich hinter der offiziellen, äußeren kirchlichen Lehre und ihren Ritualen verbarg. Auf der Suche nach einer „inneren Kirche“ wandte er sich dem Okkultismus zu, der von Rosenkreuzern und einigen Freimaurer-Logen tradierten Mystik und Magie, „Geheimen Tradition“ oder „Geheimen Lehre“, wie er das damals schwerer zugängliche esoterische Wissen selbst nannte („esoterisch“ bedeutet nach innen gerichtet, geheim, nur für Eingeweihte bestimmt, im Gegensatz zu „exoterisch“, für die Öffentlichkeit bestimmt – eine Einteilung, die sich im Zeitalter des Internets zunehmend auflöst).

Die künstlerische Gestaltung stammt von der medial begabten Graphikerin und Malerin Pamela Colman Smith (1878 – 1951). Sie wuchs in Jamaica auf, verbrachte viele Jahre in England und arbeitete auch als Schauspielerin, Bühnenbildnerin und Herausgeberin.

Das Waite-Tarot wurde 1910 in London im Verlag William Rider & Co. veröffentlicht, weshalb es auch unter den Namen „Rider-Tarot“ oder „Rider-Waite-Tarot“ bekannt wurde.

Mit welcher Intention?

Über seine Beweggründe zur Erschaffung eines neuen Tarotdecks schreibt Waite im Begleitbuch „The Pictorial Key to the Tarot“ (dt. „Der Bilderschlüssel zum Tarot“):

„Der Tarot ist in den Händen von Wahrsagern ein Warenbestandteil ihrer Industrie gewesen [...]; doch auch von der geschichtlichen und erklärenden Seite her ist es ihm nicht besser gegangen; denn diese Vertreter haben ihm zu äußerster Geringschätzung verholfen [...].
Es ist an der Zeit, dass er aus diesem Schicksal errettet wird, und ich beabsichtige dies ein für allemal zu versuchen...“

Waite wollte also das Tarot sowohl von der Wahrsagerei als auch von den Deutungen früherer Tarot-Vertreter wie Court de Gebelin, Alliette, Eliphas Levi u.a. abgrenzen und ihm zu neuer Wertschätzung verhelfen. Doch warum? Was sah er im Tarot, das ihm diese Mühe wert schien?

„Der Tarot verkörpert die symbolische Darstellung von universalen Ideen, in denen alle Verwicklungen und Folgerungen des menschlichen Geistes verborgen sind, und so gesehen enthalten sie die geheime Lehre.“

Waite sah im Tarot einen „Schlüssel zu den Mysterien“, zu jener „geheimen Lehre, die im Bewusstsein eines jeden eingebettet ist und deren Wahrheiten nur von Wenigen verwirklicht werden, weil der gewöhnliche Mensch ihnen die Anerkennung versagt.“ Es ging ihm um das Bewusstsein, das über das alltägliche, rationale Denken hinausreicht, aber durch die Symbolik der Tarotbilder angeregt und geöffnet werden kann. Am klarsten formuliert er seine Absicht in dem Satz:

„Ich habe die Karten [...] für den Menschen bearbeitet, der in seinem irdischen Leben auf der Suche nach den ewigen Dingen ist.“

Im Tarot sah er die „universalste Ausdrucksform“ um die Weisheitslehre von den „ewigen Dingen“ zu vermitteln, „da er weder durch Zurechnung noch auf andere Weise, aus irgendeiner okkulten Schule oder Literatur abgeleitet ist. Er ist weder der Alchemie, der Kabbala, der Astrologie, noch der Zeremoniellen Magie zugehörig; aber er ist [...] die Darlegung von universalen Ideen durch universale Grundformen, und wenn irgendwo, so repräsentiert er in der Verbindung dieser Urbilder die Geheime Lehre.“

Grundsätzlich stand Waite der Wahrsagerei nicht ablehnend gegenüber. Für ihn war es schlicht eine Tatsache, dass Tarotkarten zur Divination (Situations- und Zukunftsdeutung) genutzt werden können. Es ging ihm vielmehr darum, die Wahrsagekunst von dem inneren Weg der Bewusstwerdung deutlich zu unterscheiden.

„Es sollte hier wohlverstanden werden, dass ich die Möglichkeit der Divination nicht verneine, aber als Mystiker enthalte ich mich der Widmungen, die Leute auf solche Wege leiten, als ob sie in irgendeiner Beziehung zur mystischen Suche ständen.“

Seinem Selbstverständnis nach war der Katholik Waite ein christlicher Mystiker. Heute würden wir sagen, er war auf der Suche nach Erleuchtung (in christlichen Begriffen: nach Erlösung), nach jenem kosmischen Bewusstsein, das uns die Einheit von Allem mit Allem erfahren lässt. In seiner Autobiographie „Shadows of Life and Thought“ (1938) wird er die „Erkenntnis in Gott“ beschreiben als „Zustand reiner Intelligenz in tiefer Kontemplation, ein Zustand höchster essenzieller Liebe, wie auf einem geistigen Gipfel“.
Er wusste, dass die Divination den Bewusstseinszustand des Fragenden nicht zu ändern vermag, weil sie ihn nicht näher zu sich selbst führt.

Gestaltung und Symbolik

Die Bildmotive der Großen Arkana und der Hofkarten erinnern zum Teil an die mittelalterliche Gestaltung des Tarot de Marseille (1557). Waite hat sich bei seiner Bearbeitung der Kartenmotive an traditionellen Vorlagen orientiert. Bei der Karte „V Der Hierophant“ übernahm er sogar das Motiv des Papstes, obwohl er der Meinung war, „dass diese Karte in ihrer ursprünglichen Form nicht den Römischen Papst repräsentiert hat“. Er hat allerdings sämtliche Motive mehr oder weniger stark „zurechtgerückt“, einige Neuerungen vorgenommen und die Bilder vor allem mit Symbolik angereichert, so dass sie stärker in Resonanz zur inneren Weisheit des Betrachters kommen können.

Die künstlerische Umsetzung der Bildmotive von Pamela Colman Smith ist sehr stark vom Jugendstil (ca. 1890-1914) beeinflusst. Durch den Einfluss dieser eher weichen, leicht verspielten Formgebung und die überwiegend lichten Farben hat die Bildlichkeit des Waite-Tarot das Holzschnittartige, Schwere überwunden. Die Bilder strahlen insgesamt eine besondere Schönheit und Leichtigkeit aus.

Diese Leichtigkeit hat zuweilen zu der Kritik geführt, die Karten wirkten zu lieblich und gefällig und zu wenig aussagekräftig, was natürlich im Auge des Betrachters liegt. Man kann aber davon ausgehen, dass Waite bei der Konzeption der Karten umsichtig und eher zurückhaltend vorging, weil er sich an die Eide zur Geheimhaltung gebunden fühlte, wie sie in den damaligen Orden, Logen und Bruderschaften verlangt wurden, so auch im „Hermetic Order of the Golden Dawn“, in den Waite 1891 eintrat und dem seit 1901 auch Pamela Colman Smith angehörte. Im „Bilderschlüssel zum Tarot“ bezieht er sich darauf, wenn er schreibt:

„Es gibt eine den Tarot betreffende Geheime Tradition, wie auch eine in ihm enthaltene Geheime Lehre; dieser bin ich zum Teil gefolgt, ohne die Grenzen zu überschreiten, die um Dinge dieser Art gezogen sind und den Gesetzen der Ehre angehören.“

Der Hermetische Orden des Golden Dawn war 1888 „zum Zwecke des Studiums der okkulten Wissenschaft und der weiteren Untersuchung der Geheimnisse von Leben, Tod und unserer Umwelt“ in London gegründet worden. Der Orden wurde von dem Arzt und Rosenkreuzer Dr. William Wynn Westcott, dem gelehrten Kabbalisten Dr. W.R. Woodman und dem in praktischer Magie kundigen Samuel Lidell McGregor Mathers angeführt. Die Initiative zur Gründung ging von Westcott aus, dem daran lag, entgegen der alten Freimaurer-Regel, auch Frauen die Mitgliedschaft zugänglich zu machen.

Der „Golden Dawn“ hat sich um den Tarot außerordentlich verdient gemacht, wenn man bedenkt, dass auch Aleister Crowley, der konzeptuelle Schöpfer des zweiten weltberühmten Tarotdecks, ihm angehörte (seit 1898). Das mag damit zusammenhängen, dass die Mitglieder vom Grad des Adeptus Minor (5. Grad) dazu angehalten wurden, auf der Grundlage esoterischer Prinzipien ein eigenes Tarotdeck zu malen. Der Orden verfügte dabei über ein Vorlagen-Deck, das sehr wahrscheinlich von Mathers und seiner Frau Moina stammte, die Künstlerin war. Die Lehren des Ordens und insbesondere die tiefgründigen Bedeutungen der Tarotbilder unterlagen der Geheimhaltung und um diese zu sichern, mussten die Mitglieder entsprechende Eide ablegen. Man kann davon ausgehen, dass Waite bei der Gestaltung der Tarotkarten darauf bedacht war, nicht zuviel preiszugeben. Im Unterschied zu Waite, der insgesamt ein eher abwägend-zurückhaltender Charakter war, wird der rebellische Crowley sich später nicht in gleicher Weise an seine Eide gebunden fühlen und sich im Gegenteil dafür engagieren, das Geheime öffentlich zu machen.

Neben jüdisch-christlicher Symbolik hat sich Waite vor allem der Alchemie, Astrologie und der Zeremoniellen Magie sowie ägyptischer Motive bedient.
Zudem hat er die Nummerierung der Karten XI Kraft und VIII Gerechtigkeit vertauscht, vermutlich um die astrologischen Zuordnungen der Großen Arkana zu den Tierkreiszeichen in eine Reihenfolge zu bringen. Er selbst schreibt im Kapitel zur Tarotkarte „VIII The Force“ (Die Stärke oder Die Kraft) lapidar:

„Auf Grund von Überlegungen, die für mich überzeugend waren, wurde diese Karte mit der Karte der Gerechtigkeit vertauscht, der normalerweise die Zahl 8 zugeordnet wird. Da diese Abänderung nichts Bedeutsames für den Leser beinhaltet, ist auch keine Erklärung notwendig.“

Besonderer Verdienst: Die neue Bildlichkeit der Zahlenkarten

Für Waite waren die 22 Großen Arkana die eigentlichen Träger der Geheimen Lehre. Die 16 Hofkarten (König, Königin, Ritter und Bube/Page) sah er historisch als ein Bindeglied zu den 40 Zahlenkarten. Aus der gleichen historischen Perspektive zählte er die 56 Kleinen Arkana (16 Hofkarten plus 40 Zahlenkarten) insgesamt zum Bereich der Wahrsagerei, „denn es wurde bisher nie in eine andere Sprache übersetzt“. Diese Übersetzung nimmt er jedoch vor.

Bisher waren auf den 40 Zahlenkarten des Tarot lediglich die Symbole der vier Elemente (Stäbe, Kelche, Schwerter, Münzen) in ihrer jeweiligen Anzahl abgebildet, so wie es heute noch auf gewöhnlichen Spielkarten üblich ist (Kreuz, Herz, Pik, Karo + Zahl). Ausgehend von herkömmlichen Bedeutungsinhalten übersetzt Waite die bislang eher abstrakte Symbolik in konkrete szenisch-figürliche Bilder, damit sie „für die Intuition eine große Unterstützung sein werden“.

Marseille:
3 Kelche

Waite:
3 Kelche

Marseille:
4 Schwerter

Waite:
4 Schwerter


Mit dieser neuen Bildlichkeit der Zahlenkarten suchte er eine Entwicklung des Gebrauchs der Kleinen Arkana über die Ebene der Wahrsagerei hinaus zu ermöglichen und sie für die mystische Suche nutzbar zu machen. Im Hinblick auf diesen spirituellen Weg sind die Tarotbilder „mit Toren zu vergleichen, die unerwartete Räume eröffnen, oder mit einer Richtungsänderung auf freier Straße, die eine weite Aussicht erschließt“ (Zitate aus „Der Bilderschlüssel zum Tarot“).

Damit ist das Waite-Tarot das erste veröffentlichte „spirituelle“ Tarotdeck, das mit der Intention entworfen wurde, zur Vermittlung höherer Weisheit im Dienste der Selbsterkenntnis und Bewusstseinsentwicklung beizutragen.

Zugangsweg zu neuem Bewusstsein

In den 1960er Jahren kam es in den USA und Europa zu einer breiten Protestbewegung gegen soziale und politische Missstände, die auch darauf gerichtet war, sich aus religiös-dogmatischer und kultureller Enge zu befreien. Zu dieser Befreiungsbewegung zählte ein neu erwachtes Interesse an östlichen und westlich-esoterischen Weisheitslehren und Zugangswegen zur Erweiterung des Bewusstseins.
In diesem gesellschaftlichen Kontext wurde das Waite-Tarot 1971 (nachdem das Crowley-Tarot 1969 erschienen war) von U.S. Games Systems in Zusammenarbeit mit Rider und Company, England, und dem Schweizer AGMüller-Verlag unter dem Namen „The Rider Tarot“ in den USA veröffentlicht. Als Vorlage diente das von Waite persönlich zu seinen Lebzeiten benutzte Tarotdeck, das dem Verlag von seiner Tochter Sybil Waite zur Verfügung gestellt wurde.

Seither gibt es immer mehr Menschen, die in ihrem „irdischen Leben auf der Suche nach den ewigen Dingen“ sind und Tarotkarten als Zugangsweg zu intuitivem Wissen und höherem Bewusstsein betrachten und als Mittel der Selbsterkenntnis für ihren spirituellen Weg nutzen. Diese nicht an Zukunftsdeutung, sondern an ihrer eigenen Bewusstseinsentwicklung interessierten Menschen waren und sind die Adressaten Waites.

Das Waite-Tarot zählt, zusammen mit dem Crowley-Tarot, zu den weltweit beliebtesten Tarotkarten, ein Umstand, den Waite und Colman Smith nicht mehr erlebt haben. Waite vermochte zwar nicht, das Tarot aus seinem eingangs erwähnten „Schicksal“ zu „erretten“, ein Warenbestandteil der Wahrsage-Industrie zu sein und mit Geringschätzung beurteilt zu werden. Aber es ist ihm gelungen, die wichtige Unterscheidung einzuführen zwischen Wahrsagekunst (die man auch mit Kipper-, Lenormand- oder Skatkarten betreiben kann) und dem inneren Weg der Selbsterkenntnis und Bewusstwerdung, auf dem das Tarot als Wegweiser dienen kann.

Waites Begleitbuch „Der Bilderschlüssel zum Tarot“ von 1910 ist (ähnlich wie das von Crowley 1944 verfasste „Buch Thoth“) als Deutungsbuch für Tarot-Anfänger nicht unbedingt zu empfehlen. Eben weil die von diesen beiden Tarot-Schöpfern selbst verfassten Handbücher eher schwer verständlich und für den praktischen Gebrauch nicht sonderlich geeignet sind, wurden und werden seit den 1970er Jahren etliche neue Tarotbücher geschrieben, die sich um eine zeitgemäße Deutung bemühen. Im deutschsprachigen Raum hat sich besonders Hajo Banzhaf (1949 – 2009) für die Kenntnis, Nutzung und Wertschätzung des Waite-Tarot engagiert und viele gute Deutungsbücher verfasst.

Das Waite-Tarot wurde mir durch die Teilnehmerinnen meiner Tarotseminare und Tarotkreise (1995 – 2007) nahegebracht, die die von ihnen jeweils favorisierten Tarotkarten mitbringen konnten. Ich fühlte mich von der Dynamik, Ausdruckskraft und Tiefgründigkeit des Crowley-Tarot stärker angezogen und die Bilder des Waite-Tarot wirkten auf mich im Vergleich eher statisch und oberflächlich. So bin ich vor allem Claudia Dittert (1961 – 2005) von Herzen dankbar, dass sie mich das Waite-Tarot „sehen“ und schätzen lehrte. Seit 2009 verwende ich es für die „Tarot-Impulse“, die im Internet-Portal www.vigeno.de/tarot veröffentlicht sind.

Wenn Sie sich von den Bildern des Waite-Tarot angesprochen fühlen, finden Sie in diesem Tarotdeck einen wertvollen Wegweiser und Begleiter, der von dem forschenden Geist eines Wahrheitssuchers inspiriert ist, dessen Sehnsucht und Ziel die „Erkenntnis in Gott“ war.